Über Werke, die die Grenzen der Klassik neu definiert haben
In der ProArte-Saison 2023/24 präsentiert eine lange Reihe internationaler Spitzenorchester Werke, die unsere Vorstellungen von Musik geprägt, erneuert und manchmal auch mit Schwung auf den Kopf gestellt haben.
Jede Kunst will Grenzen überschreiten: hinein in die Abgründe unserer Psyche, hinaus in die Weiten des Weltalls oder in die Tiefen metaphysischer Spiritualität. Dabei ist die Musik als immateriellste, aber auch unschärfste der Künste zur Entfesselung solch freier und befreiender Fantasien besonders gut geeignet – und wenn sie, lange über ihre eigene Entstehungszeit hinweg, noch heute mit uns „spricht“, ist die Grenzüberschreitung zweifellos gelungen.
Ewigkeit und Ekstase
Oft genug war es dabei so, dass das Einreißen innerer Limits auch mit dem Überschreiten äußerer Grenzen zusammenging und eine Änderung der Lebensumstände neue kreative Potenziale entfesselte. So ist Sergej Rachmaninows Toteninsel zwar das Werk eines ur-russischen, tief in der östlichen Orthodoxie verwurzelten Künstlers. Entstanden aber ist die visionäre Tondichtung 1909 im sächsischen Dresden, und inspiriert wurde sie durch ein knapp dreißig Jahre älteres Bild Arnold Böcklins, das der gebürtige Schweizer in Florenz malte. Rachmaninow schuf eine Generation später aus dieser elegischen Vorlage, die sich an der süß-bitteren Erhabenheit des endgültigen Abschiednehmens geradezu berauschte, ein suggestives Klangbild voll tröstlich dunkler Geborgenheit und wollüstig-schmerzlicher Erinnerungen. Getragen wird es durch das in Raum und Zeit entgrenzte Wogen des alles zeugenden und alles zurücknehmenden Meeres – als Widerschein des Ewigen, das über jeden individuellen Lebenslauf hinausreicht. In Hamburg haben die Wiener Philharmoniker unter dem jungen Schweizer Lorenzo Viotti das spätromantische Meisterwerk aufs Programm gesetzt.
Lorenzo Viotti
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Dabei eröffnen die Wiener Philharmoniker in ihrem Konzertprogramm einen spannenden musikalischen Dialog, denn Rachmaninows Toteninsel war keineswegs das einzige russische Klang-Monument jener Zeit, das – aus Moskauer oder Sankt Petersburger Sicht – „im Westen“ entstand. Auch der nur wenig ältere Alexander Skrjabin schrieb, fast gleichzeitig, sein esoterisch-visionäres Poème de l’extase im Ausland (vorwiegend in der Schweiz). Eine spannende Programmwahl, gelten die beiden doch als musikalische Gegenpole und Konkurrenten par excellence.
Beide übrigens, Rachmaninow wie Skrjabin, folgten dem Beispiel Pjotr Iljitsch Tschaikowskys, der von seinen ausgedehnten Europatourneen unter anderem das 1878 in Clarens am Genfer See entstandene Violinkonzert mitgebracht hatte und zehn Jahre später, nach einem Besuch in Hamburg, seine 2023/24 heroisch-pathetische fünfte Sinfonie dem damals schon über 80-jährigen Theodor Avé-Lallemant widmete, einem ebenso leidenschaftlich engagierten wie nachhaltig wirksamen Manager im Hamburger Musikbetrieb während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In seinen ganz Tschaikowsky gewidmeten Konzerten präsentiert das Leipziger Gewandhausorchester unter Andris Nelsons gleich beide Gipfelpunkte im Schaffen des vielleicht „westlichsten“ aller russischen Komponisten.
Andris Nelsons | Leonidas Kavakos
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Andris Nelsons
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Skandalwerk
Es gab also eine Vielzahl fruchtbarer, räumlicher wie personaler Bindungen zwischen der russischen und der zentral- und westeuropäischen Musikszene – eine Tatsache, die zu unterstreichen man gerade angesichts der aktuellen (auch kultur-)politischen Verwerfungen nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine nicht müde werden sollte. Natürlich waren die Motive der einzelnen Künstler, in den mediterranen Raum, nach Paris oder in die Schweizer Berge, ja sogar – siehe Rachmaninow – ins wilhelminische Deutschland zu streben, durchaus unterschiedlich. Allen gemeinsam jedoch war das Bestreben, sich in ihrer bewusst gewählten neuen Umgebung sowohl kreative Anregungen als auch möglichst optimale Aufführungsbedingungen für ihre Werke zu sichern. Das galt selbst dann noch, wenn es, wie im Falle von Igor Strawinskys wild-archaischem, alle romantischen Schönheitsideale über Bord fegendem Sacre du printemps (bei uns gespielt von den Bamberger Symphonikern), zu einem krachenden Uraufführungs-Skandal kam: Dem Siegeszug der Musik und ihres Komponisten hat der Pariser Eklat von 1913 jedenfalls nicht geschadet – ganz im Gegenteil.
Beethoven: Sinfonie Nr. 7 | Strawinsky: Le sacre du printemps
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Fantasiereisen
Dabei sind die russischen Künstlerkolonien im romanisch und germanischsprachigen Raum nur ein auffälliger Spezialfall für das Verlassen der zunächst durch Geburt und Ausbildung vorgegebenen Schranken während jener Jahrzehnte, die seit ungefähr 1840 auch die Anfänge des Massentourismus im heutigen Sinne brachten. Für fantasiebegabte Künstler brauchte es dafür nicht einmal die unmittelbare Präsenz vor Ort. Maurice Ravel etwa wurde zwar als Sohn einer baskischen Mutter nahe der spanischen Grenze geboren und hatte eine lebenslange Neigung zur Mentalität, den Stimmen und Klängen der iberischen Halbinsel. Selbst dorthin gekommen ist er allerdings nie, was man jedoch einem Stück wie dem schon im Titel spanisch inspirierten Alborada del gracioso keinesfalls anmerkt. Dennoch wäre es fehlgeleitet, darin nach vordergründig folkloristischen Bezügen zu suchen: Ravel bewegt sich mit seinem Schaffen in einem viel weiteren Assoziationsfeld symbolischer, teils literarisch inspirierter Bild- und Geschichtserinnerungen, die oft bis in die Welt der Antike zurückreichen; so auch in seinem Ballett Daphnis et Chloé und den daraus extrahierten Suiten. Und dass seine Fantasiereisen nach Spanien und ins antike Griechenland unser Konzertleben bis heute immens bereichern, stellt das Orchestre Philharmonique de Radio France in seinem Konzert am 25. Oktober 2023 zweifelsfrei unter Beweis.
Daniel Harding | Sol Gabetta
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Heimweh und Fernweh
Materiell handfester und gegenwartsnäher waren die Interessen Antonín Dvořáks, als er sich 1892 in die Vereinigten Staaten aufmachte. Obwohl es zunächst ein administrativer Auftrag war, der ihn über den Atlantik führte – nämlich die Leitung des National Conservatory of Music of America –, hinterließ der mehrjährige Aufenthalt auch Spuren in Dvořáks Werk: am deutlichsten in seiner neunten Sinfonie Aus der Neuen Welt, verdeckter auch im Cellokonzert. Hier wie dort geht es um die Dialektik zwischen der Entdeckerfreude an den Weiten des fernen Kontinents und ihren spezifischen Klängen auf der einen und der dennoch nie verstummenden Sehnsucht nach heimatlich-vertrauter Geborgenheit auf der anderen Seite. Die sinfonische Reise in die Neue Welt tritt bei uns in dieser Saison das Bergen Filharmoniske Orkester an, während sich mit Gautier Capuçon und Nicolas Altstaedt gleich zwei Weltklasse-Solisten des Cellokonzerts annehmen.
Edward Gardner | Nicolas Altstaedt
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Petr Popelka | Gautier Capuçon
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Edward Gardner | Alexej Gerassimez
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Der Klang der Neuen Welt
Gleichsam spiegelbildlich zu diesen euopäischen Meisterwerken stehen in der Saison 2023/24 auch Kompositionen amerikanischer Provenienz auf dem Programm: Mit dem römischen Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia hören wir George Gershwins Cuban Overture und sein Klavierkonzert. Näher an die musikalische Gegenwart jenseits des Atlantiks führt uns Anne-Sophie Mutter, die das ihr gewidmete zweite Violinkonzert von Filmmusiklegende John Williams gleich zweimal zur Aufführung bringt: am 6. September 2023 mit dem Boston Symphony Orchestra und am 11. Juni 2024 mit dem Dallas Symphony Orchestra. Und auch die jüngste Generation amerikanischer Komponisten kommt zu Wort: mit Carlos Simons Konzert für Orchester und What Keeps Me Awake der aus Puerto Rico stammenden und mittlerweile in New York lebenden Angélica Negrón.
Andris Nelsons | Anne-Sophie Mutter
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Jakub Hrůša | Daniil Trifonov
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Fabio Luisi | Anne-Sophie Mutter
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Magie oder Zufall?
Natürlich sind solche Kommunikationen quer über den Globus im Laufe der Jahrhunderte leichter geworden, was – man denke an ein aktuelles Stichwort wie „Flugscham“ – nicht nur positive Aspekte hat. Da wirkt es dann fast tröstlich relativierend, dass es in der Musikgeschichte auch reine Zufallsbeziehungen gibt, die kaum ein Komponist bewusst intendiert haben dürfte und die dennoch in unserem „Hör-Unterbewusstsein“ mitspielen. Zu ihnen gehört in unserer bevorstehenden Spielzeit auch eine kleine Ballung markanter fünfter Sinfonien – alle in Moll, alle von dramatischen existenziellen Auseinandersetzungen geprägt. Neben dem schon genannten Tschaikowsky-Beitrag steht auch Dmitri Schostakowitschs fünfte Sinfonie auf dem Programm – und natürlich das imaginäre „Leitwerk“ alles „Fünften“: Ludwig van Beethovens c-Moll-Sinfonie. Letztere kombinieren die Bamberger Symphoniker in ihrem Konzert am 26. Januar 2024 mit einer weiteren „Fünf“: Als strahlend-vitale, gleich vom ersten Takt an die positiven Seiten des Daseins aufrufende „Zugabe“ stellen sie der schicksalsschweren Sinfonie Beethovens berauschend schwungvolles Es-Dur-Klavierkonzert zur Seite.
Beethoven: Klavierkonzert Nr. 5 | Beethoven: Sinfonie Nr. 5
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Gianandrea Noseda | Seong-Jin Cho
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Merkwürdig ist allerdings, dass im gesellschaftlichen Klanggedächtnis die fünften Sinfonien von Beethoven und Tschaikowsky viel enger zusammenzugehören scheinen als die der beiden Landsleute Tschaikowsky und Schostakowitsch. Die Entstehungsdaten 1808, 1888 und 1937 allerdings sagen Anderes: zwischen den beiden älteren Werken liegt ein ganzes Menschenalter, zwischen den jüngeren nur etwas mehr als die Hälfte davon. Was einen auf den Gedanken bringen könnte, dass sich musikalische Räume nicht nur geographisch, sondern auch zeitlich manchmal dehnen und ein anderes Mal zusammenziehen können und vielleicht erst dadurch tatsächlich zu „Zeit-Räumen“ werden … Diesen und den vielen anderen Rätseln und Erfüllungen der Musik nachzugehen, wird hoffentlich auch in unserer bevorstehenden Saison wieder gelingen. Viel Spaß beim Hören!