Vier amerikanische Spitzenklangkörper mit charakteristischer Programmatik
Amerika! Lange Zeit hatte dieses Wort einen besonderen Klang. Hier könne jeder sein Glück machen, unabhängig von Aussehen, Glauben oder Herkunft – dieses Versprechen lockte Menschen aus aller Herren Länder über Jahrhunderte in die Neue Welt. Und auch wenn der Glanz des „amerikanischen Traums“ in mancher Hinsicht verblasst ist – die Vielfalt Amerikas und seiner Geschichte spiegelt sich bis heute im Musikleben des Landes wider.
Im Gepäck der Generationen von Einwander:innen sind musikalische Prägungen mit dorthin gelangt. Der Sound ferner Heimaten hat sich auch und besonders in die DNA der führenden US-amerikanischen Klangkörper eingeschrieben. Und wie sehr sich diese in ihrer Programmatik davon leiten lassen, hört man bis heute – egal ob in Texas, Pennsylvania oder Massachusetts. Neben Aufgeschlossenheit und Risikobereitschaft pflegt man dort auch ein starkes Traditionsbewusstsein. Denn prägenden Persönlichkeiten die Treue zu halten und gleichzeitig innovativen Ideen ein Podium zu bereiten, muss keineswegs ein Widerspruch sein.
Verschwenderische Klänge
Wenn mit den Sinfonieorchestern aus Boston, Philadelphia, Washington und Dallas vier der bedeutendsten Klangkörper Amerikas Highlights in der ProArte-Saison 2023/24 setzen, lässt eine charakteristische Werkauswahl im wahrsten Sinne des Wortes anklingen, wie sehr die jeweilige Orchesterhistorie sich auf die Programmplanung auswirkt.
Kein Zufall ist es etwa, dass The Philadelphia Orchestra Sergej Rachmaninow einen ganzen Konzertabend widmet: Das Orchester mit seinem damaligen Musikdirektor Leopold Stokowski war von 1924 bis zu Rachmaninows Tod erste Adresse für Uraufführungen und Aufnahmen der Werke des Russen. Dass man den Geist dieser besonderen Kooperation noch heute spüren kann, davon ist Yannick Nézet-Séguin, seit 2012 Chefdirigent in Philadelphia, überzeugt: Die Großzügigkeit des Philadelphia-Sounds passe einfach hervorragend zu Rachmaninows geradezu verschwenderischem Klangstreben.
Yannick Nézet-Séguin | Daniil Trifonov
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Doppelbödige Klänge
Was für Philadelphia Rachmaninow, ist für Washington Dmitri Schostakowitsch: Sämtliche seiner Sinfonien zählten in der Ära Mstislaw Rostropowitsch – 1977 bis 1994 Chefdirigent des National Symphony Orchestra – zum Kernrepertoire im Kennedy Center der amerikanischen Hauptstadt. Schostakowitschs Sinfonie Nr. 5 bezeichnet das NSO heute noch als „Signature piece“ jener Zeit: In 16 Ländern auf vier Kontinenten interpretierten die Washingtoner das eindrückliche Meisterwerk unter Rostropowitsch. Doch bei aller Verbindung zur Tradition richtet das National Symphony Orchestra den Blick auch auf die musikalische Zukunft. „Es ist ein Orchester, das bereit ist, Risiken einzugehen, es ist begierig darauf, gemeinsam neues Repertoire zu erforschen“, schwärmt Gianandrea Noseda, seit 2017 Chefdirigent des NSO.
Diesen Forschergeist stellen er und sein Weltklasse-Klangkörper auch in Hamburg unter Beweis, wenn sie neben Schostakowitschs doppelbödiger Fünfter ein topaktuelles Werk mit in die Elbphilharmonie bringen: Das Konzert für Orchester von Carlos Simon, 1986 geboren und aktuell Composer in Residence im Washingtoner Kennedy Center.
Gianandrea Noseda | Seong-Jin Cho
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Brandneue Klänge
Dabei ist Carlos Simon nur ein aktuelles Beispiel dafür, wie die musikalische Gegenwart als selbstverständlicher Teil zur Programmgestaltung der amerikanischen Traditionsklangkörper gehört – natürlich auf Art und Weise Amerikas, wo man sich nicht scheut, die Konzertsäle anderen musikalischen Welten zu öffnen. In Boston beispielsweise widmet sich als Ableger des Boston Symphony Orchestra gar ein eigenes Orchester, das Boston Pops Orchestra, explizit dem populären Repertoire. Von 1980 bis 1993 stand es unter der Leitung des Filmmusikkomponisten und vielfachen Oscarpreisträgers John Williams. Und so war es natürlich Ehrensache für das BSO und seinen Chefdirigenten Andris Nelsons, im Juli 2021 das Anne-Sophie Mutter gewidmete zweite Violinkonzert von Williams aus der Taufe zu heben.
Sich der neuesten Orchesterliteratur zu widmen, hat in Boston ohnehin Tradition: Mehr als 99 Uraufführungen spielte das BSO allein in der Ära Serge Koussevitzky (1924–1949); amerikanische Erstaufführungen waren es noch viel mehr, darunter auch Sergej Prokofjews fünfte Sinfonie. Nach Hamburg bringen die Musiker:innen und Andris Nelsons nun sowohl Prokofjew als auch Williams – womit wir die deutsche Erstaufführung des brandneuen Violinkonzerts in der Elbphilharmonie feiern dürfen – und eröffnen mit diesem typisch Bostoner Programm den ProArte-Reigen amerikanischer Orchester.
Andris Nelsons | Anne-Sophie Mutter
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Zukünftige Klänge
Zum Ende der hochkarätig besetzten Saison 2023/24 schließt sich der Kreis und es wartet ein direkter Hörvergleich: Auch das Dallas Symphony Orchestra setzt Williams’ zweites Violinkonzert aufs Programm – in beiden Fällen ist natürlich Anne-Sophie Mutter als Solistin zu hören. Den Auftakt zum Konzert des DSO gibt ebenfalls die aktuellste musikalische Gegenwart. What Keeps Me Awake nennt Angélica Negrón das Werk, in dem sie die Suche nach ihrer künstlerischen Stimme zum Thema macht.
Die in Puerto Rico geborene Wahl-New-Yorkerin zur Composer in Residence ernannt zu haben, zeugt dabei von einem wichtigen Grundsatz in der Programmatik des DSO. Hier wird nicht nur der komponierende Nachwuchs aktiv gefördert: Negróns Schaffen – ähnlich wie das von Carlos Simon – steht für Emanzipation und Diversität, Fantasie und die Suche nach Antworten in einer komplexer werdenden Welt. Und vielleicht lebt er hier weiter, der flüchtige „amerikanische Traum“: in dem Bestreben der traditionsreichen Spitzenorchester, der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der heutigen Gesellschaft musikalisch eine Stimme zu geben – und gerade damit ihren Wurzeln treu zu bleiben.
Fabio Luisi | Anne-Sophie Mutter
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