Hintergründe
„Wir hatten einfach großes Glück“

Sir Neville Marriner zum 100. Geburtstag

Sir Neville Marriner
© Hermann Josef Wöstmann

Einer von den ganz Großen

Alles begann in einem Wohnzimmer in London. Mitte der 1950er-Jahre lud der Violinist Neville Marriner ein gutes Dutzend Musikerfreunde und -kollegen ein, um gemeinsam Musik des 17. und 18. Jahrhunderts zu spielen. Sein Wunsch: In kleiner Runde und ohne Dirigenten gewissermaßen „demokratisch“ zu musizieren – einfach aus Freude an der Sache, ohne Gedanken an Honorar und Dienstverpflichtung.

Sir Neville Marriner
© Academy of St Martin in the Fields

Vom Freizeitprojekt zum Welterfolg

Und offenbar war die Zeit reif für ein solches Unterfangen, denn das Freizeitprojekt wurde rasch zum Welterfolg: 1958 entschied man sich, ein kleines Konzert in der Kirche St Martin-in-the-Fields am Trafalgar Square zu geben. Ein paar Kirchenbesucher könne man nach dem Gottesdienst bestimmt überreden, dazubleiben, mutmaßte der Ensemble-Cembalist, hauptberuflich Organist der besagten Kirche. Und ja: Man konnte. 

 

Zufällig saß die Verlegerin Louise Hansen-Dyer in einem der ersten Konzerte. Sie schlug vor, man könne doch mal ein paar Aufnahmen mit Alter Musik machen. Damit begann die Erfolgsgeschichte des Ensembles, das als Academy of St Martin in the Fields mit kammermusikalisch-transparenten Interpretationen der Musik vom Barock bis ins 20. Jahrhundert Weltruhm erlangen sollte. Grundstein des Erfolgs: Ensemble-Gründer und -leiter Sir Neville Marriner († 2016).

Gleich die erste Platte wurde geradezu lächerlich gut rezensiert, wenn man bedenkt, wie unerfahren wir waren. Wir hatten einfach großes Glück.
Sir Neville Marriner

Vom Bogen zum Taktstock

Seinen Weg vom Geigen- zum Dirigentenpult beschrieb Sir Neville 2014 in einem Interview wie folgt: „Pierre Monteux kam zu mir und meinte, ich sollte statt mit meinem Bogen so herumzuwedeln, doch lieber lernen, richtig zu dirigieren. Er lud mich nach Amerika zu einem sechswöchigen Dirigierkurs ein […]. Zurück in England durfte ich mein Debüt als Dirigent des London Symphony Orchestra geben.“ Dass die Umschulung ein Erfolg war, muss wohl nicht eigens betont werden. Nach dem erwähnten Debüt folgten Einladungen zu den großen amerikanischen Orchestern („deren Chefdirigenten hatten wenig Lust, Haydn und Mozart zu machen“), Chefpositionen in Minnesota und Stuttgart. Preise und Ehrungen häuften sich, 1985 erhielt Neville Marriner den Ritterschlag.

Idealist aus Überzeugung

Neben der künstlerischen Exzellenz zeichnete Sir Neville vor allem seine einnehmende Persönlichkeit aus, die selbst aus Interviews in die Gegenwart herüberstrahlt. Bis ins hohe Alter blieb er Idealist, engagierte sich beispielsweise als Erster Gastdirigent des Jugendorchesters I, Culture und träumte noch mit 87 Jahren davon, wieder ein Orchester wie die Academy zu gründen: „In unserer Zeit passiert es doch kaum noch, dass Menschen zusammenkommen, um nur aus Spaß gemeinsam Musik zu machen. Ich würde gern in einer Gesellschaft leben, in der so etwas ganz einfach passiert.“ Mit Begeisterungsfähigkeit und feinem britischen Humor setzte er sich dafür ein, eine solche Gesellschaft möglich zu machen. Am 15. April 2024 wäre Sir Neville Marriner 100 Jahre alt geworden.

In unserer Zeit passiert es kaum noch, dass Menschen zusammenkommen, um nur aus Spaß gemeinsam Musik zu machen. Ich würde gern in einer Gesellschaft leben, in der so etwas ganz einfach passiert.
Sir Neville Marriner

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