Dirigentinnen bei ProArte
Ein weiser Rat, den Alondra de la Parra einst von Kurt Masur bekommen hat. Denn dass der Weg ans Pult der besten Orchester der Welt ein steiniger ist, gilt nicht erst jetzt und nicht nur für Frauen. Die Ausbildung ist extrem anspruchsvoll, die Karriereleiter sehr steil und die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben eine große Herausforderung.
Musik leben und verkörpern
Wer Dirigent:in werden möchte, muss auf einiges verzichten. Und doch ist es für viele der schönste Beruf der Welt. Ein Leben mit und für Musik, die Arbeit mit Menschen und im Team, die Eigenständigkeit, die Kreativität und die Möglichkeit, sich auszudrücken. „Der Sinn der Sache ist nicht nur, Musik in die Welt zu transportieren, sondern sich selbst besser kennenzulernen“, sagt Marie Jacquot, zukünftige Chefdirigentin des WDR Sinfonieorchesters, in einer arte-Reportage. Und Alondra de la Parra beschreibt das Dirigieren als physischen Prozess, der vom ganzen Körper Besitz ergreift: „Die Musik geht von der Partitur in den Kopf, dann ins Herz durch den Körper ins Orchester. Darum haben Dirigent:innen kein Instrument, wir müssen die Musik verkörpern.“
Warum dieser hochemotionale Beruf, der neben aller Fachkenntnis und Beherrschung von Schlagtechniken sehr viel Einfühlungsvermögen und Menschenkenntnis erfordert, immer noch typisch männlich konnotiert ist, leuchtet nicht so recht ein. Vielleicht liegt es daran, dass sich das Bild des autoritären Maestros im Frack, der seinen Klangkörper wie ein Königreich regiert, noch immer hartnäckig in den Köpfen hält.
Allen Vorurteilen zum Trotz
Dabei pflegt auch unter den männlichen Dirigenten unserer Zeit kaum noch jemand diesen archaischen Stil; Musiker wie Andris Nelsons oder Klaus Mäkelä nehmen ihre Orchester als Team wahr und schätzen die Zusammenarbeit. Doch nichts wird bekanntlich so gern gepflegt wie ein schönes Vorurteil. Auch deshalb sehen sich Dirigentinnen immer wieder mit der Frage konfrontiert, was sie als Frau dazu bewegt hat, diesen Beruf zu ergreifen. „Es spielt in unserer Gesellschaft immer noch eine große Rolle, obwohl ich keinen Unterschied sehe. Ich bin Marie Jacquot. Ich dirigiere.“ So einfach ist das ... Doch zum Glück scheint diese Haltung langsam, ganz langsam in den Köpfen der Veranstalter:innen, Zuhörer:innen und auch derjenigen, die selbst Musik machen, anzukommen.
Dirigentinnen und Ensembleleiterinnen der „ersten Generation“ wie Simone Young, Marin Alsop oder Candida Thompson, die in den 1980er- und 90er-Jahren ihre Karriere begannen und damals als absolute Exotinnen galten, dürfen sich heute darüber freuen, dass sie offensichtlich eine Vorbildfunktion für viele jüngere Musikerinnen ausgefüllt haben. Mit Alondra de la Parra (*1980), Karina Canellakis (*1981), Mirga Gražinytė-Tyla (*1986), Elim Chan (*1986) oder Marie Jacquot (*1990) gibt es inzwischen eine ganze Reihe von charismatischen Chefdirigentinnen, die ihren Platz am Pult behaupten und wiederum als Vorbilder für die nächste Generation dienen können.
Marie Jacquot
Tennisschläger oder Taktstock? Für Marie Jacquot war die Antwort klar, als es beim Tennis nur noch um die Leistung und nicht mehr um den Spaß am Spiel ging. Die Musik gewann in ihrem Leben die Oberhand; erst die Posaune, dann das Partiturlesen und alles, was zum Dirigierstudium dazugehört. Nach Stationen in Würzburg und Düsseldorf steht die 34-jährige Französin als erste Gastdirigentin der Wiener Symphoniker sowie zukünftige Chefdirigentin des WDR Sinfonieorchesters und des Königlichen Dänischen Theater Kopenhagen inzwischen am Pult der besten Orchester unserer Zeit. Ihr Markenzeichen: bunte Schnürsenkel zum ansonsten schwarzen Bühnenoutfit.
Marie Jacquot | María Dueñas
Candida Thompson
Seit 2003 ist Candida Thompson künstlerische Leiterin der Amsterdam Sinfonietta und bestimmt mit ihrem exzellenten Ensemble und seinem raffinierten Programm das Konzertleben der Stadt entscheidend mit. Auch bei anderen Kammerorchestern ist die schottische Musikerin, deren Herz schon immer für die Kammermusik schlug, eine gefragte Gastdirigentin und Gastsolistin. „Play and Conduct“ ist ein Konzept, das ihr auf den Leib geschneidert zu sein scheint: mittendrin in der Musik, mit klarer kreativer Vision, die im Kollektiv weiterentwickelt wird.
Amsterdam Sinfonietta | Candida Thompson
Mirga Gražinytė-Tyla
Sie ist eine, mit der man schnell per du ist. Und das nicht nur, weil ihr Nachname Menschen, die kein Litauisch beherrschen, nicht so leicht über die Lippen kommt. Dabei hat Mirga Gražinytė-Tyla zu Beginn ihrer Karriere ihrem Namen selbst den Zusatz „Tyla“ verliehen, was so viel wie „Stille, Ruhe, Schweigen“ bedeutet. Ein ebenso starkes wie bedeutsames Statement für eine junge Musikerin, die mit nicht einmal 30 Jahren Chefdirigentin des City of Birmingham Symphony Orchestra wurde, dessen erste Gastdirigentin sie bis heute ist. Bei ProArte war sie zuletzt als Einspringerin für Christian Thielemann mit den Wiener Philharmonikern und Lang Lang im Juni 2024 zu Gast.
Elim Chan
2015 machte Elim Chan weltweit von sich reden, als sie als erste Frau den renommierten Donatella Flick Wettbewerb für sich entschied. Ein Türöffner für ihre weiteren Karriereschritte: Auf Assistenzstellen beim London Symphony Orchestra und beim Los Angeles Philharmonic sowie Meisterkursen bei Bernard Haitink in Luzern folgten Debüts bei den Salzburger Festspielen, beim Orchestre de Paris und der Sächsischen Staatskapelle Dresden. Mit Anfang 30 wurde sie Chefdirigentin des Antwerp Symphony Orchestra, mit dem sie jüngst ihre erste Einspielung herausgegeben hat. Bei ProArte debütierte Elim Chan im April 2022 mit dem Mahler Chamber Orchestra und Igor Levit in der Elbphilharmonie.
Michi Gaigg
Ein Leben für die Alte Musik: Wenn Michi Gaigg über die französische Barockmusik spricht, gerät sie ins Schwärmen. Seit ihrem Studium bei Nikolaus Harnoncourt und Sigiswald Kuijken bis zur Gründung ihrer eigenen Klangkörper L’arpa festante München (1983–1995) und L’Orfeo Barockorchester (seit 1996) zieht sich die Begeisterung für diese funkensprühende Musik durch ihre Karriere. Aber auch mit ihrem feinfühligen Zugang zu den Werken Mozarts und Schuberts sorgt die österreichische Geigerin, Dirigentin, Dozentin und Festivalintendantin für Aufsehen in der Musikwelt. Bei ProArte stand sie zuletzt 2019 und 2022 mit ihrem Ensemble an der Seite des Hamburger Tenors Daniel Behle auf der Elbphilharmonie-Bühne.