Hintergründe
Anna Meredith

Unkonventionell und unberechenbar

Anna Meredith © Gem Harris
© Gem Harris
Digitales Programmheft

Anna Meredith

Freitag, 16. Juni 2023 | 19:30 Uhr | Elbphilharmonie, Kleiner Saal

Programm

Anna Meredith

Sawbones

Inhale Exhale

Calion

Bump

Divining

Tom Cruise Runs

The Vapours

moonmoons

Nautilus

Something Helpful

Paramour

Anna Meredith © Gem Harris
Anna Meredith © Gem Harris

Never Stop Exploring!!!

Kleine bunte Klebezettelchen am Spiegel. Eine erprobte Möglichkeit, sich selbst aufmunternde Nachrichten zukommen zu lassen. Da steht dann „Du siehst toll aus“ oder „Du bist es wert“, „Glaub’ an dich“ oder „Folge deinem Traum“. Die Psychologie bezeichnet das als Konzept der Selbstbestätigung, also das Aktivieren eines positiven Teils des Selbstkonzepts.

 

Auch Anna Meredith hat einen Zettel an das Whiteboard in ihrem kleinen Studio im berühmten Somerset House in London geklebt. Die Message ganz simpel und dafür umso klarer: NEVER STOP EXPLORING!!

Höre nie auf, neugierig zu sein! Verliere niemals deinen Forscherdrang!

Dass zu so einer Haltung natürlich auch ein gewisses Maß an Selbstbestätigung gehört, versteht sich von selbst. Man muss auf die eigenen Kräfte vertrauen, sich nicht von den Meinungen andere abhängig machen. Definitiv eine von vielen Fähigkeiten von Anna Meredith, Klebezettelchen sei Dank! 

Von Schottland nach London

Der Weg, den die 1978 im Norden von London geborene Anna Meredith gewählt hat, überrascht mit einigen Wendungen und Entscheidungen. Es gab eine – so beschreibt sie es selbst – normale Kindheit in Schottland, in der Anna Meredith erst Geigen- und dann später Klarinettenunterricht bekommt. Sie spielt in Jugendorchestern, lernt so viel über klassische Musik und die Strukturen im Klassikbetrieb, geht aber auch auf Konzerte von Blur oder Pulp und beschäftigt sich mit den angesagten Brit Pop Bands. Keine abgeschirmte Kindheit mit stundenlangen Übe-Marathons und Wettbewerben also, sondern vielfältige Erfahrungen und vor allem die Chance, sich an ganz unterschiedliche Umgebungen mit jeweils speziellen Anforderungen anzupassen. 

Anna Meredith © Gem Harris
Anna Meredith © Gem Harris

Anna Meredith fällt nicht weiter auf, weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Bis sie ihr erstes kleines Werk komponiert. Wie es dazu gekommen ist, kann sie heute selbst nicht mehr so genau sagen. In der High School spielte sie in einer Band und schrieb ein Stück für den Keyboarder. Der musste dafür die Hände auf die Tasten legen und mit der Nase die Knöpfe, mit denen der Sound verändern werden kann, bedienen. Diese erste Komposition erregte so viel Aufmerksamkeit, dass Anna Meredith sich schlussendlich tatsächlich im Fach Komposition zuerst an der University of York und schließlich am renommierten Royal College of Music in London einschrieb. Klassische zeitgenössische Musik also, bye-bye Popkultur. 

Offene Türen

So explizit hatte Anna Meredith das allerdings gar nicht geplant. Es war keine bewusste Entscheidung, es waren Türen, die sich öffneten. Und das passierte immer wieder. Eine Residency als Komponistin beim BBC Scottish Symphony, Auftragswerke für das London Symphony Orchestra, das BBC Philharmonic oder das Ensemble Modern. Die ganzen big names aus der Klassik-Szene also, Kritiker:innen ausnahmslos völlig aus dem Häuschen über diese junge Komponistin, die da wie aus dem Nichts aufgetaucht war. 

Außerhalb der Kategorien

Anna Meredith und ihre Werke passen damals wie heute in keine Kategorie. Sie schrieb ein Konzert für einen Beatboxer, eine „Gigue“ (also einen traditionellen Tanzsatz) für Tanzmatte und Elektronik, ein Stück für Orchester ohne Instrumente – „HandsFree“ wurde 2017 in der Elbphilharmonie zum ersten Mal in Deutschland aufgeführt –, Kammermusik mit Einspielungen aus einem MRT, ein Werk für den Eishobel, Zamboni genannt, der täglich mehrmals die Eisbahn im Innenhof von Somerset House aufbereitet. 

Durch ihre Erfahrung in ihrer Jugend weiß sie, wie Orchesterinstrumente funktionieren und wie Orchestermusiker:innen ticken. Alles was sie komponiert, übersetzt Anna Meredith in traditionellen Notentext, sie lässt sich nicht auf graphische Notationsformen oder absurde Spielanweisungen ein. Und trotzdem ist die Musik, die sie für Orchester und Ensembles schreibt, anders als fast alles, das sonst auf den Notenpulten der Musiker:innen landet.  

 

Von der Zeichnung zur Komposition

Das hat ganz sicher auch was mit der Entstehung der Werke zu tun. Wenn man Anna Meredith in ihrem Studio besucht, findet man nicht nur den kleinen Klebezettel mit dem Powerspruch, sondern auch einen Haufen Zeichnungen. Sie sind der Anfang eines jeden Stücks. Nein, das stimmt eigentlich nicht. Bevor Anna Meredith überhaupt etwas zu Papier bringt, ist die Musik in ihrem Kopf schon fertig. Fertig im Sinne von durchdacht in der Form, den Höhepunkten, der Charakteristik, dem Wesen. Nicht fertig im Sinne von einzelnen Noten. Wenn es so weit ist, zeichnet sie die Form. Meistens erinnern die an Raketen, es gibt Ausbuchtungen, kleine Trabanten, oft sind sie erstaunlich symmetrisch. So hat Anna Meredith es als rein klassische Komponistin gemacht, so macht sie es auch heute noch, seit sie nicht nur zeitgenössische klassische Musik schreibt, sondern auch Electronic Pop, Rock oder Filmmusik.

Reingehört

Anna Meredith auf Spotify

Immer in Bewegung

Es gab einen Moment in ihrer Karriere, da wollte sie aktiv die Seiten wechseln: weg von der zeitgenössischen klassischen Musik, rüber in die Popkultur. Dafür gibt es mehrere Gründe. „Jemand hat mich einmal mit einem Hai verglichen“, erzählt sie in einem Interview. „Es stimmt: Ich mag es wirklich, in Bewegung zu bleiben.“ NEVER STOP EXPLORING! 

 

Außerdem behält sie so mehr Kontrolle. Sie gibt ihre Stücke nicht an ein Orchester und hofft, dass es so wird, wie sie es sich vorgestellt hat. Anna Meredith macht alles selbst, am liebsten mit Hilfe von verschiedenen Synthesizern.  2016 entstand so ihr erstes Electronic Pop-Album „Varmint“, drei Jahre später „FIBS“, das sie dank Pandemie erst jetzt live so richtig vorstellen kann. 

Die Band

Inzwischen hat sie eine feste Band aus lange befreundeten Musiker:innen und Produzenten, die mit Hilfe von Tuba, Cello, Synthies, Gitarre und Drums alles realisieren können, was Anna Meredith sich vorstellt. Die Tracks auf diesen Platten sind so unglaublich erfinderisch und cool, man hat fast die ganze Zeit das Gefühl, etwas zu hören, was man so noch nicht vorher erlebt hat. Das ist natürlich genauso geplant. Anna Meredith komponiert nicht 30 Stücke und überlegt dann, welche davon aufs Album kommen. Nein, sie wusste von Anfang an, dass es genau diese elf Tracks sind, die „FIBS“ werden. Es beginnt mit der Prog-Rock-Halluzination „Sawbones“, „Inhale Exhale“ zeigt pulsierende Sequencer-Power, „Calion“ startet wie ein langweiliger Techno Track, der am Ende doch in einem durchschüttelnden Erdbeben endet. „Paramour“ nimmt die fetten Blechbläserfanfaren von „Varmint“ wieder auf, während „moonmoons“ und „Limpet“ die vielleicht sanftesten und musikalisch unkompliziertesten Stücke sind, die Anna Meredith je geschrieben hat. Sie sind genau die Atempause, die man vor „Paramour“ braucht. Und am Ende singt Anna Meredith: „Something's bound to break/It better not be me.“

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